Während die Produktion und Instandsetzung von Panzern und Waffen bei Rheinmetall auf Hochtouren läuft, beginnt in derselben Stadt eines der weltweit größten, alle fünf Jahre stattfindenden Kunstereignisse: die documenta. Wie passt das zusammen? War nicht die Kunst in der Geschichte der Menschheit immer auch eine Möglichkeit, die Gegebenheiten zu durchbrechen, Lücken zu reißen, einen anderen Blick auf die Welt zu gewinnen, für das ganz Andere, also die fundamentale Negation des Bestehenden, einzustehen? Oder ist sie doch nur der schöne Schein, der die Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse in einem verklärten Licht erscheinen lässt?
Also fragen wir: Welche Rolle spielt die Kunst in diesem Spiel?
Man darf sich nichts vormachen. Kunst wird gebraucht, missbraucht und vereinnahmt und ist Teil der ideologischen Absicherung des Spiels, genannt Kapitalismus. Auch die Manager*innen von Rheinmetall haben ästhetische Bedürfnisse. Doch erneut wird sichtbar werden, dass sich Kunst dagegen wehrt und man täte den Künstler*innen, die zur documenta 15 nach Kassel kommen, Unrecht, würde man ihnen sofort unterstellen, Teil des Spiels sein zu wollen. Im Gegenteil. Viele von ihnen werden versuchen, ihm etwas entgegenzusetzen.
Die thematischen Schwerpunkte der diesjährigen documenta, Nachhaltigkeit und Kooperation, katapultieren uns mitten hinein in die Auseinandersetzungen. Kassel wird zu einer Art Schnittpunkt weltweit stattfindender Konflikte. Gerade jetzt erleben wir die Wiedergeburt des Imperialismus oder besser: der Imperialismen, und es genügt keinesfalls, allein auf die Figur Putin zu verweisen. Veränderte Formen von Imperialismus prägen die geostrategischen Auseinandersetzungen, auch jene um die natürlichen Ressourcen, aus denen Energie gewonnen werden kann, und durchziehen die Weltordnung, in der wir leben. Der Krieg in der Ukraine ist von dem katastrophalen Zustand dieser Erde, den man die „ökologische Krise“ nennt, nicht zu trennen: die Zerstörung, die dieser Kapitalismus braucht, um Profite zu erzeugen, tritt hier offen zutage. Auch im Krieg und durch Krieg verwertet sich Kapital um den Preis der Vernichtung von Mensch und Natur.
Dies wollen wir in diesem Sommer in Kassel sichtbar machen. Und zu dieser Sichtbarkeit gehört eine beklemmende Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit. Die ökologische Katastrophe, an der auch VW mit seinem Werk in Kassel seinen Anteil trägt, findet hauptsächlich woanders statt und für die Panzerproduktion von Rheinmetall wird Nachhaltigkeit zum An-Ästhetikum einer social-responsibility-Identität. „Unternehmerisches Handeln“ – so Rheinmetall – „hat weitreichende Auswirkungen. Dauerhaften Erfolg hat ein Unternehmen nur, wenn es ökonomische, ökologische und soziale Kriterien aufeinander abgestimmt in die Geschäftstätigkeit integriert und Mehrwert für sich, seine Mitarbeiter und die Gesellschaft schafft. Für Rheinmetall ist es daher selbstverständlich, im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Beitrag zu einer wirtschaftlich stabilen und ökologisch verantwortlichen Entwicklung der Gesellschaft zu leisten.“ Stammen diese Sätze, die in ihrer Absurdität nicht zu überbieten sind, aus der Kunst, vielleicht von einem Satiriker, oder aus der Marketingabteilung eines Tötungsspezialisten?
Auch die documenta fokussiert Nachhaltigkeit. Doch unterstellen wir zunächst einmal: anders als Rheinmetall! Die Künstler*innen von ruangrupa haben etwas ganz Anderes im Sinn, wenn sie lumbung, den indonesischen Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, ins Zentrum der diesjährigen documenta stellen: „Als künstlerisches und ökonomisches Modell fußt lumbung auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung und verwirklicht sich in allen Bereichen der Zusammenarbeit und Ausstellungskonzeption.“ Sie setzen so zumindest die Frage von Kunst und Politik auf die Agenda. Doch wenn diese Kunstausstellung mit wohlfeilen Worten der „Verantwortlichen“ aus „Politik und Wirtschaft“ eröffnet wird, dann ist ihren Worten zu misstrauen: Diese sollen dazu dienen, uns über das, was die Kunst uns an Beunruhigendem zu sagen hätte, zu täuschen. Sie sollen sie zum Teil des gesellschaftlichen Spektakels machen und jedes Potentials berauben, darüber hinauszuweisen.
Vor mehr als 50 Jahren haben Guy Debord und die Künstler*innen der Situationistischen Internationale einen Begriff für den kapitalistischen Normalzustand gefunden, der noch immer oder mehr denn je zutrifft: das Spektakel. „Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die vollständige Rechtfertigung der Bedingungen und der Ziele des Systems.“ Dazu braucht es die Kunst, auch wenn nicht jede Kunst dafür brauchbar ist. In seiner Wirklichkeit ist dieses Spektakel für Debord „die sichtbare Negation des Lebens“. Die sichtbarste Negation des Lebens aber ist der Krieg, egal ob er der Ausweitung oder Absicherung von Imperien dient, als Krieg gegen die ökologischen Lebensgrundlagen dieses Planeten geführt wird oder die Zurichtung der Subjekte zum Homo oeconomicus als ultima ratio des Lebens propagiert.
Kunst als Ästhetisierung spielt eine wichtige Rolle dabei. Noch einige Jahre vor den Situationisten hat dies Walter Benjamin gewusst. Mehr denn je erleben wir mediale Ästhetisierungen, die vor allem die Politik bestimmen. Neu ist das nicht, neu aber ist die Breite, die dieses Phänomen gewonnen hat. Das hatte Benjamin so noch nicht vor Augen. Aber er wusste: „Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser Punkt ist der Krieg. Der Krieg und nur der Krieg, macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben.“
Wir sind Aktivist*innen vom Bündnis Rheinmetall Entwaffnen. Wir glauben, dass die Kunst mehr weiß, als den Herrschenden recht ist. Würde sie nichts bewirken, dann müsste der Kapitalismus nicht derartige Anstrengungen unternehmen, Kunst im kapitalistischen Warenspektakel zu vereinnahmen. Wir glauben, dass politischer Aktivismus durch die Kunst lernen kann: in Bezug auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit, auf der Suche nach Mitteln und für die Formen des Lebens und der Unversöhnlichkeit mit den herrschenden Verhältnissen von Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg. In diesem Sinne begrüßen wir alle Künstlerinnen und Künstler, aber auch alle Besucher*innen auf dieser documenta, und laden sie ein, uns vom 30. August bis zum 4. September auf dem Camp in Kassel zu besuchen und sich an Aktionen gegen die Rüstungsindustrie zu beteiligen. Wir freuen uns auf einen kreativen, politischen und aktivistischen Sommer in Kassel. Wir glauben weder, dass Rheinmetall und VW, noch der kapitalistische Kunstmarkt und auch nicht der Krieg das letzte Wort haben werden. Venceremos!
Rheinmetall Entwaffnen, Juni 2022